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Interessenvereinigung zur Aufklärung und Vernetzung 

gegen organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt

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Ein ganz normales Leben

Aktualisiert: 23. Feb. 2022



Ich gehe in die Schule. Ein Gymnasium. Wie alle meine 29 Mitschüler. Jeden Morgen, fünf Tage die Woche, 52 Wochen abzüglich der Ferien. Mein Verhältnis zur Schule ist ein gespaltenes: Einerseits genieße ich dieses Stückchen Normalität, das ich mit meinen 29 Mitschülern teile. Wir alle tun uns schwer, morgens früh aufzustehen, um uns wenige Minuten später am Bruchrechnen, Berechnen von Funktionen und Einsetzen irgendwelcher Formeln zu versuchen - und mit einigen meiner Mitschüler teile ich auch das klägliche Scheitern. Wir alle hadern mit Deutungshypothesen bei Interpretationsaufsätzen oder den Vokabeln in den zwei bis drei Fremdsprachen. Andererseits ermüdet mich das Schauspiel dieser Normalität. Denn mein Leben ist nicht normal. Meistens weiß ich nicht einmal, wessen Leben ich gerade eigentlich lebe. Denn in mir spielen viele das Spiel mit. Und irgendwie scheint es keinem so richtig aufzufallen. Ich bin also richtig gut in dem Spiel. Müde, erschöpft und daran erkrankt, aber gut.

Zwanzig Jahre später. Heute erlebe ich meinen Alltag in Integration meiner Anteile. Der Weg bis hierhin bedeutete unzählige Stunden des Aufräumens in meiner Seele: Erinnerungen, die verarbeitet werden mussten, Wahrheiten, die dreiste Lügen ersetzen sollten und Anteile, die endlich gesehen, gehört, verstanden und integriert werden wollten. Und dieser Weg macht mich unheimlich stolz. Es ist wie der Triumph gegen meine Widersacher, die Täter. Ich lebe, was sie auf unsägliche Weise zu unterbinden versuchten. Ich kann erhobenen Hauptes in den Spiegel schauen, denn ich lebe. Diesen Sieg und die Freude wird doch jeder mit mir teilen wollen! „Schaut, was ich geschafft habe!“, möchte ich manchmal ausrufen. Es gibt tatsächlich einige Zeitmarker in meinem Kalender, die ich jedes Jahr wie einen Feiertag zelebriere. Meinen Uni-Abschluss zum Beispiel huldige ich in Form eines Fotos, das mich mit dem Zeugnis abbildet und das an meinem Kühlschrank hängt. Entgegen aller Prognosen habe ich einen Universitätsabschluss erworben und lebe ein Leben, das wohl dem meiner 29 Mitschüler von früher ähneln wird. Heute lebe ich also wirklich ein „normales“ Leben, was wiederum bedeutet, dass es alles andere als normal ist. Ein unnormal normales Leben also.

Damals wollte keiner hinschauen, was denn da los ist. Oder wer da los ist. Meine Kompensationsstrategien waren so brillant, dass die Dissoziationen “normal“ wirkten. Ich war halt „vergesslich“, „tollpatschig“, „ungeschickt“, eine „Tagträumerin“. Tagträumer kannte man schon als Hans-Guck-in-die-Luft aus dem „Struwwelpeter“ und fielen somit nicht auf. Und wenn doch, gab es zwar Ärger, aber damit störte man wenigstens nicht die anderen oder den Unterricht. Es durfte auch keinem auffallen. Das Spiel spielte ich, wie gesagt, gut.

Und heute? Nun, zu meiner Überraschung musste ich irgendwann feststellen, dass man auch heute nicht gerne hinschaut. Meine Freude über meine Selbstständigkeit teilt man, solange ich nicht erzähle, wovor mich denn meine Überlebensmechanismen bewahrt haben.

„Gut, dass du nur von deinem Wiederherstellungsprozess erzählt hast und nicht, wodurch die Traumata, die du überwunden hast, eigentlich verursacht wurden“, sagte erst kürzlich eine Freundin, mit der ich noch nie über mein „Früher“ gesprochen habe. Schade.

Aber kann ich es ihnen verdenken, nicht hinschauen zu wollen? Eigentlich nicht. Manchmal überkommt mich ein hoffnungsvolles Lächeln, dass es Menschen gibt, die kein schweres Leid kennen und damit in gewisser Weise überfordert sind. Hoffnung, weil es das Konzept „glückliche Kindheit“ tatsächlich gibt.

Und im nächsten Moment überkommt mich so tiefe Dankbarkeit, dass es diese Menschen gibt, die trotzdem hinschauen wollen. Die den Schmerz teilen. Die mir in diesem Prozess der Wiederherstellung mit so viel Gunst und Wohlwollen begegnet sind, in meiner Verzweiflung, Rastlosigkeit, Angst, Überreaktion, Ungerechtigkeit. Die mich geliebt haben, als ich den Wert ihrer Zuneigung noch nicht zu schätzen wusste, ja, die ganz viel Verletzung aus mir herausgeliebt haben.

Und wer weiß, wem ich morgen begegne, der statt einer strengen Korrektur seines unmöglichen Verhaltens meinen wohlwollenden, verständnisvollen und vergebenden Blick dringend nötig hat…


Jutta

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