Ja, das trifft eindeutig zu. Der Schaden an Psyche und Körper ist enorm. Ich meine zu wissen, dass man den nie mehr gutmachen kann; keine Therapie ihn beheben wird. Ich kann und will nicht vergessen oder heilwerden. Es ist so unbegreiflich, so viel was ich erlebt habe. Niemand darf mir mein Opfersein wegnehmen, wenigstens das bleibt mir. Wenigsten dieser gesellschaftliche Status gehört mir, wenn mir schon meine Kindheit, meine Unversehrtheit, meine Unbeschwertheit und eine Zukunft, so wie ich sie mir gewünscht hätte, genommen wurde. Mit dem Ausdruck «Ich bin Opfer geworden» kann ich vielleicht Worte finden, um den anderen zu erklären, was mir angetan wurde. Ich bin Opfer von vielen Straftaten geworden; Opfer von vielen Tätern. Ich musste als Opfer viele Täter aushalten. Und das bleibt mir für immer in diesem Erdenleben. Und wenn Menschen mir nicht glauben wollen, dann kann ich wenigstens sagen, ich bin ein Opfer. Niemand hat das Recht von mir zu fordern, dass ich aus dieser Opferrolle aussteige, dass ich mit meiner Vergangenheit abschliessen muss, dass ich weitergehen soll, dass ich mich versöhnen soll mit meiner Geschichte. Ich darf Opfer sein und bleiben, weil ich Opfer bin. Unfreiwillig bin ich Opfer geworden, niemand hat mich gefragt oder mir eine Wahl gelassen, nun bleibt mir nur die Wahl, ob ich jemals nicht mehr Opfer sein will.
Aber da ist diese Stimme im mir, ich will nicht Opfer bleiben, Opfer sein hat mit Hilflosigkeit, mit fehlender Wahl, mit geschehen lassen zu tun und das will ich nicht mehr. Ich will leben, atmen, mich freuen, wählen können, normal sein. Was ist das Gegenteil von Opfer? Täter. Das will ich entschieden nicht! Ich will auch kein Täter sein! Oder vielleicht manchmal doch; Täter werden an denen, die mir dieses Schreckliche angetan haben. Zurückzahlen. Rache üben. Recht bekommen. Ja das möchte ich manchmal schon. Aber das befreit mich nicht wirklich aus dem Opfersein und es entsteht kein Frieden in meinem Herzen, wenn ich zum Täter werde. Ein Internetportal zeigt als Gegenteil von Opfer, neben Täter noch König oder Gewinner an. Das gefällt mir! Ich will nicht nur Opfer sein; ich will Gewinner sein! Und deshalb entscheide ich mich, mich durch jede Therapiestunde und den damit verbundenen Schmerz zu quälen. Deshalb entscheide ich mich, immer wieder weiterzugehen, aufzustehen, zu hoffen, zu beten, Geld und Zeit zu investieren in diesen Weg. Ich will leben und einmal sagen können: «Was mich nicht umgebracht hat, hat mich stark gemacht!» Deshalb fange ich eine Ausbildung in Trauma-Begleitung an; deshalb rede ich über meine Geschichte; deshalb will ich anderen Betroffenen einen Platz geben, an dem sie erzählen können. Weil ich Opfer sein darf und weil ich Gewinner werden will. Und mit meiner Entscheidung in meinem Herzen, Gewinner zu werden, steige ich aus, aus der Hilflosigkeit.
Ich konnte ja nicht anders als hilflos sein, als Kind hat man keine Wahl und noch heute habe ich oft keine Wahl, weil mein Inneres einfach reagiert. Aber ich will gewinnen! In allen Tränen, die nun endlich fliessen dürfen, bin ich noch einmal ganz schwach, ganz fest Opfer und gleichzeitig ist dieser Gewinnerschrei in meinem Herzen, den ich auch anderen zurufen will: «Wir gewinnen an jedem Tag an Leben, an Freude, an Freiheit, an Licht in unserem Leben, wenn wir diesen Heilungsweg gehen!» Und wenn ich aus dem Opferleben aussteigen kann, werden auch meine Kinder frei und müssen nicht noch einmal einen Opfer-Weg gehen. Sie dürfen sehen, dass es ein anderes Leben gibt.
Und deshalb bleibe ich immer Opfer und werde doch zum Gewinner!
Lisa (Pseudonym)